COVID-19: Wege zur Resilienz durch soziales Kapital

von Matt Leitner

Wie kann man von der Phase des ‚Lockdowns‘ einen Übergang schaffen, der Gesellschaften mittelfristig gegen die Auswirkungen der Pandemie resilienter macht? Gesellschaftliche Solidarität statt staatlicher Bevormundung kann auf dem langen Weg zurück zur Normalität behilflich sein. Ausgehend von Hilfe für Schwellenländer sollte das soziale Kapital ins Zentrum der Pandemie-Bekämpfung rücken. Die globale Herausforderung durch COVID-19 erfordert eine Umorientierung mittels einer neuen Form der Entwicklungszusammenarbeit. 

Die Länder der Nordhalbkugel beginnen zögernd, sich aus den Beschränkungen für das Eindämmen der Pandemie zu lösen. Aber den Schwellenländern des Globalen Südens, wo COVID-19 erst später aufgetreten ist, steht die Bewährungsprobe noch bevor. Die Afrikanische Union unter Führung des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa hat sich vor kurzem für ein umfassendes Stimulus-Paket ausgesprochen und begonnen, die Wirtschaftslenker Afrikas einzubinden. Afrika verzeichnet mittlerweile steigende Zahlen von Ansteckungen (mehr als verdoppelt von 10.000 auf 26.000 Fälle zwischen 6. und 22. April), bei oft unzureichender medizinischer Versorgung. Es gibt wenig Grund zum Optimismus, dass die vorwiegend junge Bevölkerung das Virus abschwächen könnte. Ein Beobachter stellte lakonisch fest, dass es im Südsudan mehr stellvertretende Minister gibt als Beatmungsgeräte in den Krankenhäusern. Diese Herausforderung kann mit herkömmlicher humanitärer Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit kaum gelöst werden.

Mangelnde internationale Koordination gegen COVID-19

Globales koordiniertes Handeln zur Bekämpfung des Virus und solidarische Hilfe für die Länder, deren Gesundheitssysteme schwach sind, fallen nach wie vor gering aus. Durch die Pandemie stehen die Vereinten Nationen vor einer existenziellen Krise und bedürfen dringender struktureller Reformen, um handlungsfähig zu bleiben. Vom UN-Sicherheitsrat war bis zum 9. April nichts zu hören, um die Pandemie zur Gefahr für Weltfrieden und Sicherheit zu erklären, da Rivalitäten der Supermächte inzwischen auch mit der Pandemie verknüpft wurden. Obwohl die mächtigsten Wirtschaftsnationen der G20 sich Mitte April darauf einigen konnten, Schuldenzahlungen für die ärmsten Staaten bis zum Ende des Jahres auszusetzen, bedeutet dies dennoch nur eine Atempause. Nach Ansicht der Welthandelsorganisation UNCTAD müssten die Anstrengungen noch viel weiter gehen. Ein Paket für die Schwellenländer um die US $2,5 Trillionen müsste bereitgestellt werden, einschließlich Schuldenerlass sowie Stützung der medizinischen und sozialen Einrichtungen. 

Paradigmenwechsel durch die Pandemie

Neueste Schätzungen des Weltwährungsfonds (IWF) rechnen mit einer weltweiten Rezession und einem Einbruch des globalen Bruttosozialprodukts um bis zu 3%, also weit über dem Schaden durch die Finanzkrise von 2008/2009. Es ist absehbar, dass die Pandemie und ihr noch ungewisser Ausgang eine epochale Wendezeit bedeuten, wenngleich es nicht an Stimmen fehlt, die eine langsame Rückkehr zum Zustand vor 2020 zumindest für möglich halten. Eine grundlegende sozio-kulturelle Wandlung der globalen Marktwirtschaft wie nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ist unwahrscheinlich, doch eine „Restitutio ad Integrum“ auf erdenkliche Zeit ist auch schwer vorstellbar. 

Abkehr von der „Welt von Gestern“

Unter dem Titel „Die Welt von Gestern“ hat der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig den tiefen Umbruch von Gesellschaft und Politik der Jahrhundertwende durch den 1. Weltkrieg aus seinem Stockholmer Exil 1942 beschrieben. Die Pandemie macht deutlich, dass im Grunde ein ähnlich überlebtes Weltmodell bis 2020 Konjunktur hatte und dass eine Neuorientierung zwingend nötig ist. In einem neuen Beitrag hat der Außenbeauftragte der EU Josep Borrell dargestellt, dass wir bereits in einer neuen Welt leben und uns in ihr einrichten müssen, da sie sich rapide verändert. Die Diskussion über Umorientierung auf umweltbewusstes Wirtschaften und Klimaschutz als Vorsorge gegen weitere Pandemien ist bereits in vollem Gang. Dafür bedarf es einer praktischen Neubesinnung auf soziales Kapital und dessen sinnvolle Mobilisierung, was im Rahmen einer Hilfe für die Südstaaten möglich ist, um ihre Resilienz gegen COVID-19 intelligent zu stärken.

Entwicklungszusammenarbeit mit Resilienz und für soziales Kapital

Bürger*innen, Zivilgesellschaft und sogar die Parlamente in demokratischen Industrieländern wurden durch dringliche Notmaßnahmen gegen das Virus überrollt; nun sollte die Periode der Lockerungen nach dem ‚Lockdown‘ genutzt werden, um eine humane und nachhaltige Vorgehensweise zu finden sowie auch praktisch Solidarität mit den Schwellenländern zu üben. Als Kompass ist eine echte Partnerschaft zwischen Nord und Süd unabdinglich, angestoßen von der gemeinsamen Herausforderung durch COVID-19. 

Dies ist die Stunde von Resilienz und einer Neubewertung des sozialen Kapitals; Kultur- und Sozialwissenschaften und auch Philosophie sollten integrierter Bestandteil dieser Lösungen sein, mit denen betroffenen Länder des Globalen Südens geholfen wird. Die renommierte Mo Ibrahim Stiftung hat im April dargestellt, welche Dimensionen von Regierungsführung neben der Notfallmedizin zusätzlich engagiert werden sollten, nicht zuletzt in der statistischen Erfassung. Wie kann ein solches Sofortprogramm für Resilienz und der Bildung von neuem sozialen Kapital konkret aussehen?   

Ein Sofortprogramm zur Resilienz

Eine Vielzahl von digitalen Lösungen mittels sozialer Medien steht bereit, die in urbanen wie auch ländlichen Gegenden Umfragen ermöglicht, bei denen breite Schichten der Bevölkerung mobilisiert werden, um ihre Meinung, Befindlichkeit und Engagement im Kampf gegen COVID-19 aufzunehmen. Das Zuhören ist ein erster Schritt zu mehr Partizipation. Dabei muss bedacht werden, dass starke Teilnahme von Frauen und jüngeren Leuten gefordert ist. 

Auf Basis der Resultate können weiterhin die sozialen Partner im formellen und informellen Sektor im Dialog zusammenfinden und neue Koalitionen gegen COVID-19 bilden. Prioritär kann man mit kleinen Betrieben oder Straßenmärkten arbeiten, um Innovationen auf die Spur zu bringen, gerade dort, wo die produktiven Kräfte des Landes besonders gefordert sind, um sich resilient gegen die Pandemie zu stellen. Länder mit besonderen Bedingungen für post-Konflikt-Stabilisierung, u.a. jene unter einem existierenden Friedensabkommen oder mit signifikanten Gewaltpotenzialen, bedürfen auch einer konfliktsensiblen Lösung, um den Prozess der Befragung so objektiv wie möglich zu gestalten.

Einvernehmlich gefundene ‚Lessons Learned‘ können durch einen besonderen Fonds der Staaten innovative Lösungen voranbringen. Neben Sachleistungen oder Geräten sind auch finanzielle Garantien denkbar, die erfolgreiche Initiativen fördern und publik machen, was die Mitarbeiter*innen und Empfänger*innen zusätzlich motiviert.  

EU und Mitgliedsstaaten sollten ihre Entwicklungszusammenarbeit anpassen

Das Handwerkszeug für eine solche schrittweise Stärkung des sozialen Kapitals und pragmatische basis-gestützte Hilfe, um mit COVID-19 fertig zu werden, existieren bereits in allen staatlichen Hilfsorganisationen und INGOs sowie bei den finanziellen Geberorganisationen. Sie müssen nur anders und nachhaltiger zusammengeführt werden. Eine Reihe von Pilotprojekten kann daher helfen, die gewonnenen Erfahrungen auf verschiedenen Kontinenten zu sammeln und der Weltgemeinschaft schneller den Ausgang von der Pandemie-Krise zu ermöglichen. 

Hier ist die EU aufgefordert, ihr Instrumentarium der Hilfe anzupassen, einschließlich der EU ‚Emergency Trust Funds‘, die aufgrund des Beschlusses von Valletta 2015 auf dem Gipfelpunkt der Migrationskrise etabliert wurden und im Oktober 2020 auslaufen. EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere mit positiven Erfahrungen in der Eindämmung des Virus und sensibel gegenüber Migrationsbewegungen, sollten nicht zögern, die Resilienz der Schwellenländer gegen COVID-19 innovativ und tatkräftig zu fördern.

 

 Matt Leitner

Matt Leitner war in in OSZE- und UN-Friedensmissionen tätig, unter anderem als Stabschef der Politischen UN-Mission in Guinea-Bissau (Westafrika). Er hat kürzlich mit IGAD in Addis Abeba (Äthiopien) ein EU Trust Fund-Projekt (ADA Österreich) im Bereich Frieden und Sicherheit durchgeführt. Seit Anfang 2020 gilt seine Aufmerksamkeit vermehrt den Entwicklungen im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie.

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