Zeit für Techno-Optimismus

von Stefan Schett

„Was täten wir alle, wenn jetzt 1975 wäre und wir kein Internet, keine Smartphones und keine Streamingdienste hätten?“,fragt Presse-Journalistin Anna Wallner. „Dann würden wir uns weniger fürchten“, sagt Falter-Chefredakteur Florian Klenk. Zeit für etwas Optimismus.

Es gibt wenige Dinge, die unsere Zeit so sehr prägen wie die sozialen Medien. Seit über zehn Jahren findet eine „Revolution“ der Kommunikation statt, die keinen Bereich der Gesellschaft unberührt lässt. Die üblichen Plattitüden in Richtung „Jeder kann was posten“ spare ich mir an dieser Stelle, wir alle haben Black Mirror gesehen und wissen, wie sehr Social Media unser Leben durchdringt. Aber warum eigentlich so negativ, wenn es um unsere Lieblingsapps geht? Ich hätte da noch ein paar positive Argumente, bevor wir über die Zukunftsvision reden: 

Social Media gibt Menschen eine Stimme. Auch denen, die vorher keine hatten. Auch Personen, die marginalisierten Gruppen angehören, können durch Facebook und Co. eine riesige Followerzahl aufbauen. Das bedeutet, dass wir die „Gatekeeping“-Funktion der traditionellen Medien neu denken müssen – immerhin kann jetzt jeder Mensch, jedes Unternehmen, jeder politische Akteur den Umweg direkt zu den eigenen Anhängern nehmen. Aber die Tatsache, dass jeder mitreden darf und auch kann, ist ein demokratiepolitisches Wunder. 

Social Media geht auch ohne Geld. Und das, obwohl Reichweite davor immer mit Geld verbunden war. Wer bei einer Redaktion arbeiten will, muss – zumindest heutzutage – etwas Entsprechendes studiert haben, sich auskennen, zum Medium und zur Blattlinie passen und sich entsprechend vermarkten können. Auf Social Media ist es egal, ob man zum „Mainstream“ gehört. Auch ohne Geschäftsmodell kann man einfach Reichweite aufbauen und gesehen werden, da es für ungefähr jedes Thema eine Nische gibt. 

Social Media sprengt Grenzen. Vor allem, wenn es um Information geht. Wenn ich als News-Junkie wissen will, wie andere Staaten mit dem Coronavirus umgehen, kann ich direkt zu ausländischen Medien gehen. Mit dem Podcast der „New York Times“ komme ich direkt in ein Krankenhaus in Brooklyn, auf YouTube sehe ich mir an, was der spanische Arzt zu sagen hat. Und auf Instagram komme ich dann auf den neuen Artikel im „Standard“, der mich immer noch interessiert. Information ist so frei zugänglich wie nie zuvor. Auch das ist ein Grund für Optimismus. 

Und das alles ist jetzt noch ein typischer Social Media-Rant, indem es um den Umgang mit Medien geht. Was hat das mit der Zukunft zu tun? Was ist die Vision? Der wichtigste Punkt kommt erst noch: 

Social Media rettet Leben. Es ist unglaublich, zu sehen, wie sich Menschen überall auf der Welt gerade durch Social Media vernetzen, um im wahrsten Sinne des Wortes Leben zu retten. Medizinisches Personal, das um Schutzmaterial fleht, hat plötzlich eine Plattform, um politischen Druck aufzubauen. Die falschen Zahlen von Verschwörungstheoretikern werden Thread für Thread widerlegt. Wissenschaftler auf der  ganzen Welt arbeiten zusammen und stellen ihre Ergebnisse kostenfrei zur Verfügung, um das Rennen um ein Medikament zu beschleunigen. Und im Kleinen sprechen sich die Menschen mit ihrer unmittelbaren Umgebung ab, um Patient*innen in Risikogruppen bei alltäglichen Besorgungen zu erleichtern. 

Vielleicht ist es Zeit, unser Narrativ zu hinterfragen. Das Narrativ von Social Media als bösartige Waffe des Zuckerberg-Konzerns, das traditionelle Medien vernichtet und sonst nichts Gutes tut. Mir ist klar, dass es legitime Kritik an den Konzernen gibt, die unser Leben so hart beeinflussen – egal, ob es um mangelhaften Datenschutz, Betrugsmaschen oder Desinformationskampagnen geht. Aber wollen wir wirklich so tun, als sei Social Media deswegen schlecht und würde unser Leben nicht bereichern? 

Ich glaube nicht, dass wir uns ohne Social Media mehr fürchten würden. Ich hätte wesentlich mehr Angst, wenn ich nicht permanent mit den Menschen kommunizieren könnte, die mir wichtig sind. Ich hätte wesentlich mehr Angst, wenn ich nicht so viel Information zur Verfügung hätte und mit Gleichgesinnten darüber reden könnte. Ich merke, wie Social Media mir in dieser schweren Zeit hilft, nicht komplett durchzudrehen. Und ich glaube, vielen geht es ähnlich. 

Natürlich gibt es trotzdem Dinge, die wir tun können, um Social Media besser zu machen. 

1. Nutzt die unzähligen guten Möglichkeiten von Social Media, um Menschen zu helfen und füreinander da zu sein. Und nein, nicht jeder muss eine neue Nachbarschafts-Challenge starten. Es reicht auch, miteinander zu reden. Wir sollten uns auch nach Corona nicht abgewöhnen, miteinander zu reden und das Internet für echten, ehrlichen Kontakt zu nutzen – nicht nur für Selbstinszenierung. 

2. Traut euch ruhig auch, „bad actors“ zu widersprechen, wenn der nächste Impfgegner mit seinem uninformierten Kommentar andere gefährdet. Es geht nicht darum, zu streiten oder nicht mal immer darum, Meinungen zu ändern – sondern einfach darum, dass alle Mitleser sehen, dass es auch andere Ansichten gibt. Dass die lautesten, die das Internet für ihre Agenda nutzen, nicht immer recht haben müssen. Agenda Setting is key! 

3. Social Media als etwas Positives zu sehen und Kritik an Unternehmen wie Facebook zu üben, ist kein Widerspruch. Wir sollten nach wie vor nicht alles hinnehmen, wenn große Plattformen sich Fehler erlauben. Aber gleichzeitig sollten wir zu schätzen wissen, dass das Internet und Social Media diese Welt besser machen. Oder zumindest machen können. 

Ich glaube, dass es an der Zeit für mehr Techno-Optimismus ist. Wir sollten nicht mehr so tun, als wären Social Media ein kurzer, negativer Trend, der uns und die Welt der klassischen Medien bald wieder in Ruhe lassen wird, wenn wir sie nur stark genug kritisieren. Wir sollten uns viel mehr überlegen, welche guten Dinge wir noch damit tun könnten und wie wir jede neue Technologie dafür nutzen können, noch mehr Menschenleben zu retten. Das alles wäre ohne Social Media nämlich nicht möglich. Und davor würde ich mich wirklich fürchten. 


Stefan Schett ist Blogger und beschäftigt sich seit vielen Jahren auch beruflich mit sozialen Medien. Er arbeitet als Consultant für die PR-Agentur
Milestones in Communication und ist Mitgründer des Fact Checking-Blogs Fakt ist Fakt.

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