Wie geht es dir?

von Gabriele Hampson

Vier Worte, die vor allem auch im Englischen oft nur als Floskel verwendet werden. Das fragt man halt. Eigentlich fragt man nicht, man sagt sie, diese Worte. Ohne sich wirklich für die Antwort zu interessieren, ohne sie abzuwarten, denn schon ist man gedanklich weiter, oder man hat sich sogar physisch längst distanziert. Nun ist zur Zeit physische Distanzierung angesagt und die Karten haben sich gewendet: wir interessieren uns plötzlich dafür, wie es den anderen geht. „Wie geht es dir?“ wird zur ernst gemeinten Frage, deren Antwort man abwartet, anhört.

„Wie geht es dir?“, fragt die Dame hinter der Theke in der Bäckerei und lässt sich wirklich auf eine Konversation ein. Sie erzählt, dass alle in ihrem Umfeld arbeitslos sind und dass sie sehr froh ist, ihren Job noch zu haben. Der Umsatz sei zwar stark zurück gegangen, aber noch hält sie Stellung.

„Wie geht es dir?“, fragt die Freundin am Telefon. Sonst schreiben wir uns hin und wieder kurze Nachrichten auf Whatsapp – jetzt ruft sie an, nimmt sich Zeit, will wissen, wie es mir wirklich geht, wie ich klarkomme.

„Wie geht es dir?“, ruft die Verwandte, die ich in den letzten 4 Wochen öfters gesehen habe als in den letzten 4 Jahren. Meist beim Erledigen von „Nummer 4„ auf der Liste der von der Regierung erlaubten Gründe zum Verlassen des Hauses: beim Spazierengehen. Wir bleiben jeweils auf der gegenüberliebenden Straßenseite stehen und tauschen uns aus.

 „guten morgen, wie geht’s so? ,

schreibt eine Arbeitskollegin. An unserem Projekt können wir im Moment nicht weiter arbeiten, da es sich um eine Veranstaltung handelt, die bis auf weiteres verschoben ist. 

„hier zappeln zwischen gut und böse, zwischen wohlbefinden und ungeduld. es entscheidet sich meist von selbst, ohne mein zutun. hope to see you soon, ich habe echt sehnsucht nach dem Ort, in dem du wohnst.“ „Bei uns fließt der Rhein so“,

schreibt sie noch unter das mitgeschickte Bild. Ein graues Bild vom Rhein.

Ich antworte:

„dankbar: die sonne scheint, wir haben ein kleines, feines häuschen mit Garten, meine nachbarn kommunizieren über den Gartenzaun, ich bin in 10 Minuten zu fuss in der natur, die kinder und ich, wir reden mehr miteinander und wir reden NOCH miteinander, ich habe die arbeit und diese sache kann ich als Herausforderung sehen. 

zum K***: 

  • das system schule und einzelne lehrer*innen - problemsucher*innen anstatt lösungsfinder*innen rauben energie. 

  • politiker*innen, die an stimmenprozente und nicht menschlichkeit denken und in ihrem geistigen auge bilder aus griechenland mit bildern von „korrekt“ angekreuzten wahlzetteln verdrängen. 

  • keine UMARMUNGEN!!! „

Mit dieser Kollegin arbeite ich an einem Theaterprojekt, das das Leben in einem Teil unseres Dorfes darstellen soll. Hätte der Autor die Recherchen erst jetzt begonnen, so wären die auswendig zu lernenden Textpassagen und Dialoge wohl anders ausgefallen. Das Theater handelt davon, wie wir in diesem Ortsteil miteinander leben, was das Leben hier prägt. In der neuen Version würde es wohl ebenfalls um das Miteinander gehen, aber hin und wieder würden wir uns die Frage stellen: „Wie geht es dir?“, diese ernsthaft beantworten und uns freuen, dass sich das gegenüber Zeit nimmt, zuzuhören.

Wir kehren zurück zur Bedeutung der Worte, die wir aussprechen. Wir überlegen uns, welche Fragen wir stellen. Wir nehmen uns Zeit, zuzuhören. Wir formulieren unsere Antworten ehrlich. Wir telefonieren nicht, wir machen Video-Chats, weil wir uns sehen wollen. Anstatt auf dem Sofa zu sitzen und in den sozialen Medien zu lesen, was der Nachbar gerade kocht, wie wunderbar alles beim Home Schooling klappt und wie klug seine Hunde sind, reden wir über den Gartenzaun, der für physische Distanzierung ideal ist und uns nicht vergessen lässt, was wir dürfen und was nicht. Keine retuschierten Fotos, das wahre ich. Kein „so tun also ob“, denn es steht einem ins Gesicht geschrieben, wie der heutige Tag ablief – Make-up ist schließlich im Home Office nicht so wichtig. Keine Distanzierung,  denn man freut sich über die Nähe. Und für einen Augenblick vergisst man die Funktion des Gartenzauns und genießt die Nähe, die Umarmung in Form des Zeitnehmens. Wir nehmen uns wieder Zeit. Und vielleicht nehmen wir dieses Sich-Zeit-Nehmen mit in die Zukunft.


Hast du Zeit?


Gabriele Hampson lebte 18 Jahre in England, wo sie die wirtschaftliche Leitung einer kreativen/sozialen non-profit Organisation innehatte, bevor sie in ihre Heimat Vorarlberg zurückkehrte. Derzeit ist sie Geschäftsführerin vom Verein W*ORT, bei dem Kinder schreiben, erzählen, Lösungen finden, Ideen entwickeln und ins Tun kommen können - in ihrer Freizeit und durch Kooperationen mit Schulen.

Zurück
Zurück

Eine neue Wissenschaft? Universitäten und Forschung nach Corona

Weiter
Weiter

COVID-19: Wege zur Resilienz durch soziales Kapital