Lernen aus der Vollbremsung oder: Wie wir unseren Autopiloten umprogrammieren müssten

von Thomas Narosy

Unvorstellbares geschieht gerade. Vergleichbares meiner Meinung nach zuletzt im Jahr 1989, als der „Eiserne Vorhang“ fiel. Die Menge kluger Kommentare steigt gefühlt ins Unermessliche. Wer soll das alles lesen? Ich versuche mich daher kurz zu halten und hoffe, auf Wesentliches hinzuweisen.

1.   Die Komplexität unseres Lebens ist nur mit guten Rahmenbedingungen zu bewältigen. Diese wirken wie ein Autopilot, der uns sicher ans Ziel bringt, während wir zwischenzeitlich nach Belieben diesem und jenem nachgehen können. Hält der Autopilot einen guten Kurs, dann geht’s uns allen gut. Hat der Autopilot ein Problem, haben wir alle ein Problem.

2.   Die „Corona-Vollbremsung“ „lehrt“ uns gerade, was alles möglich ist bzw. wäre, was gut und was falsch läuft. Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Beispielsweise: Gut sind ein verlässliches und nicht kaputt gespartes Gemeinwesen, geöffnete Supermärkte und Zivildiener, die freiwillig wieder „einrücken“. Möglich sind in Windeseile adaptierte Kurzarbeitsgesetze und saubere Luft in den Städten. Falsch gelaufen sind in Österreich manche Aspekte der Bildungsgerechtigkeit und weltweit manche Aspekte der globalisierten Wirtschaft sowie eine bedrohliche Reduktion „natürlicher“ Lebensräume – Stichwort: Virenübertragung. Stichwort aber auch: Insektensterben. Und Stichwort allemal: Klimakrise.

3.   Die Corona-Krise lehrt uns auch, dass wir fähig und willens sind, wenn’s drauf ankommt, einen hohen Preis zu zahlen Menschenleben zu retten. Bei näherem Hinsehen lehrt uns die Krise auch das Wundern über die „Selektivität“ dieser Bereitschaft. Was ist mit den an Anzahl viel zahlreicheren Opfern von Hitzewellen, Naturkatastrophen, Kriegen oder einfach „nur“ wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit?

Drei Vorschläge, nein: dringende Anregungen in Sachen Bildung in diesem Land:

4.   Neue Schulbuchaktion. Die mittlerweile in die Midlife-Crisis gekommene Schulbuchaktion wurde vor 50 Jahren entwickelt, um allen Schüler/innen jährlich und kostenlos aktuelle und gute Lerninhalte technisch am Stand der Zeit zu vermitteln. Damals war das Papier. Heute gehört „das Digitale“ dazu. Daher: Jedem Kind ein Device, Connectivity, Apps und Content auf Kosten der Republik, bitteschön. Das ist finanzierbar, technisch möglich und in spätestens zwei bis vier Jahren flächendeckend umgesetzt.

5.   Andere Prozesse der Lehrplanentwicklung. Die österreichische Schule hat neben einigen anderen auch ein „Siloproblem“ – die gesellschaftliche Realität geht zu einem Gutteil an ihr vorbei. Den „Elchtest“ der E-Learning-Fähigkeit bestehen manche Standorte mit Bravour, und manche gar nicht. Dem kommt man, bei aller Liebe, nicht mit dem Flickwerk von kleinen und kleinesten Bildungsinitiativen bei. Von den Finnen könnten wir lernen, dass man Lehrplanentwicklung tunlich im 10-Jahresrhythmus und als gesamtgesellschaftliche „Haupt- und Staatsaktion“ betreiben muss. Dann muss man sich auch nicht wundern, dass das finnische Bildungssystem bereits zum zweiten Mal in Folge zum zukunftsfähigsten Bildungssystem dieses Planeten gewählt wurde.

6.   Professionalisierung und Vernetzung der Pädagogischen Profession. Eh: E-Learning bringt’s. Und ist doch in Summe maximal eine „halbe Sache“. Nicht allein die „Voll-Elektrifizierung“ des österreichischen Bildungssystems bringt uns auf Dauer weiter, sondern insbesondere die entschieden verfolgte Professionalisierung der Lehrpersonen und der fokussierten Schulstandort- und Clusterentwicklung. Mit anderen Worten (schlag nach bei Hattie) „collective teacher efficacy“. Steht auf dem Update seiner berühmten „Liste“ mittlerweile ganz oben. Und warum überrascht uns das nicht?!

Drei dringende Anregungen für den „Rest der Welt“.

7.   Papst Franziskus stellt die Frage, ob wir nicht alle etwas ärmer werden sollten. Die Krise lehrt uns gerade, dass Leben auch ohne fünf Städteflüge jährlich lebenswert ist. Mit anderen gemeinsam zum Heurigen zu gehen oder ein Einkaufsbummel. Das wäre schon was! Nein, wir nagen nicht am Hungertuch. Und etwas weniger zu haben muss noch nicht weniger an Lebensqualität bedeuten. Haben oder Sein. Dazu gibt’s berufenere Äußerungen als meine …

8.   Daher: Jetzt mutige CO2-Steuern und ähnlich wirksame Klimaschutzmaßnahmen umsetzen. (Das mit dem Katalysator vor einigen Jahrzehnten hat ja auch gut geklappt. Und: Nein, es war nicht die unsichtbare Hand des Marktes, sondern gesetzgebende Kraft, die das bewirkt hat.) Wir können uns das leisten und saubere Luft, gesunde Lebensmittel und erträglich(er)es Klima werden u.a. unser Lohn sein.

9.   Daher auch: Schluss mit Steuerparadiesen. Wahnwitzigen Finanzmarktprodukten. Schlag nach bei Piketty oder Schulmeister oder ihresgleichen. Stattdessen: Progressive Eigentums- und Erbschaftssteuern. Schuldenerlässe. Die Vorschläge liegen alle am Tisch. Es gilt sie wohlüberlegt umzusetzen.

Never waste a good crisis! (Hillary Clinton). Den Flieger im Fliegen umzubauen ist schwierig. Aber wenn wir zwischendurch schon einmal zum Landen gezwungen worden sind, dann könnten wir auch gleich vor und beim Neustart den Autopiloten umprogrammieren. Und, wo notwendig, den Flieger umbauen. Möglich wär’s. Und notwendig auch.

Thomas Nárosy ist Bildungsinnovationsberater und lebt in Wien.

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Infrastrukturpolitik und öffentliches Eigentum nach COVID19 und in der Klimakrise

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