'Invictus' oder Von der Kraft des erzählenden Wortes

von Leo Schönauer

Woran werden sich Menschen erinnern, wenn sie in 10 Jahren von der sogenannten Corona-Krise und dem darauf folgenden lock-down sprechen? Am ehesten von der Erfahrung eingesperrt zu sein, von eingeschränkten Freiheiten, die bis dahin selbstverständlich schienen. Diese Erfahrungen zu verarbeiten, wird wohl noch einige Zeit dauern, mir persönlich hat der Film Invictus dabei geholfen. Er erzählt von Nelson Mandela und seinen Versuchen, die ‘Rassen’-Trennung in Südafrika zu überwinden und wie ihm ein Gedicht ermöglicht hat, die 27 Jahre Gefangenschaft zu überleben.

Invictus (W. E. Henley)

Out of the night that covers me,

Black as the pit from pole to pole,

I thank whatever gods may be

For my unconquerable soul.

….

It matters not how strait the gate,

How charged with punishments the scroll,

I am the master of my fate:

I am the captain of my soul.

Die letzten beiden Zeilen bringen es auf den Punkt, das Gefühl der Stärke und Zuversicht trotz schlimmer Umstände. Ich kann die Tatsachen nicht ändern, nicht das Virus, nicht die Handlungen der Politiker und schon gar nicht die Reaktionen der Medien oder der Menschen, aber ich kann beeinflussen, was diese Tatsachen mit mir machen. Ich kann, wie das Gedicht sagt, das Schicksal nicht bestimmen, aber ich kann es meistern.

Dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit ist es, was einen Menschen Veränderungen und Schicksalsschläge hinnehmen lässt, was ihn davor bewahrt, die Hoffnung zu verlieren und zu verzweifeln. Es würde aber sehr schnell wieder verschwinden, wenn es nicht erfahrbar wird und deshalb braucht es einen Resonanzraum, in dem es sich verstärkt und an Kraft gewinnt. So ein Resonanzraum können unterstützende Menschen sein, aber auch ein Lied oder ein Gedicht, das durch seine Worte so viel Mut macht, dass man neben dem Weg in die Verzweiflung oder Aggression auch andere Wege sehen kann.

Eine ähnliche Bedeutung hat die Fantasie in Michael Endes ‘Unendlicher Geschichte’. Mit Hilfe eines Buches macht der Junge Bastian Reisen in die Parallelwelt Phantásien. In dieser Welt erlebt er unglaubliche Abenteuer und nach und nach wird aus dem schüchternen Jungen ein mutiger Held. Diese Bewährungsproben finden zuerst nur in der Fantasiewelt statt, doch in mehreren Schritten der Selbstermächtigung gelingt es ihm schließlich, sich auch in der Realität den Dingen zu stellen, vor denen er früher geflüchtet war.

Halten wir diesen Gedanken fest, das erzählende Wort entfaltet seine Kraft in einer dialektischen Struktur. In dem Wechselspiel zwischen Imagination und Realität eröffnen sich Welten, die eine veränderte Selbstwahrnehmung ermöglichen und Optionen entstehen lassen, sich für das eine, das andere oder ein Drittes zu entscheiden.

Das Gegenteil wäre ein auf Algorithmen beruhendes System. Dieses funktioniert nach einer eindeutigen Handlungsanweisung und orientiert sich an Kriterien wie Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz. In so einer Welt gibt es keine Fantasie, sondern nur Kreativität, die aber wiederum unter dem Diktat der Anwendung steht. Man glaubt, mit der richtigen Technik, alle Probleme lösen zu können. Auch die sozialen und emotionalen und deshalb sind solche Systeme in letzter Konsequenz unmenschlich. Sie reduzieren den Menschen auf seine reine biologische Existenz und berauben ihn damit seiner Freiheit und seiner Würde. Der lock-down verursacht nicht nur wegen der Maßnahmen an sich oder der Einschränkung vieler Grundrechte so ein großes Unbehagen, es sind vor allem die begleitende Wortwahl und die Ausschließlichkeit, die diese Bedrohlichkeit erzeugen.

Das erzählende Wort reduziert den Menschen nicht, sondern fügt ihm Dimensionen hinzu, die über das Nützliche und Verwertbare hinausgehen. Mit Heidegger gesprochen das, was sich den herrschenden Kriterien entzieht, das Subversive.

Seine Ausformungen zeigen sich in der Notwendigkeit des Unnötigen, in der Freiheit des Geltenlassens und in der Gelassenheit, die zur Sprache bringt, die ein Aussprechen möglich macht. Dieses Aussprechen entlarvt, weil das, was nicht gesagt werden darf, im Moment des Aussprechens an Realität gewinnt. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Die Macht des Kaisers ist so groß, dass niemand lacht, als er nackt zur Parade schreitet. Alle schließen sich der offiziellen Darstellung an, die neuen Kleider seien so fein, dass man sie nicht sehen kann. Erst ein Kind in seiner Unbedarftheit spricht das Offensichtliche aus und eröffnet damit neben dem kaiserlichen Diktum eine weitere Perspektive. Und doch wäre das Aussprechen nichts ohne Zuhören.

Denn nur im Zuhören entsteht Raum für Meinungen, nur im aussprechen Lassen ist Verständigung möglich.

Zwei Beispiele aus meinem Berufsleben mögen das verdeutlichen. Als Lehrer wende ich sehr viel Energie auf, um Aufmerksamkeit zu erlangen und zu halten. Es gibt aber zwei Situationen, in denen SchülerInnen hochgradig aufmerksam sind und geradezu unerschöpflich Geduld im Zuhören aufbringen. Zum einen sind das die sogenannten Stundenverkürzungsaktionen („Herr Lehrer, wie war Ihr Wochenende?“), zum anderen, wenn SchülerInnen von sich erzählen dürfen (Erlebnisse mit Haustieren, Ferien, …). In beiden Fällen werden die Beteiligten nicht ihrer Rolle als Unterrichtende oder zu Unterrichtende wahrgenommen, sondern als Personen und in beiden Fällen braucht es vor allem Zeit. Die ist aber in der Regel nicht vorhanden, weil eine Schularbeit ins Haus steht, besorgte Eltern mehr Übungen einfordern oder ein vom Leistungsgedanken geprägtes Kind nach fünf Minuten fragt: „Und; wann machen wir endlich Stoff?!“ Dieses von Druck, übertriebener Fürsorge und Leistung korrumpierte Kind stellt als Archetyp das genaue Gegenteil des neugierig fragenden und naiv feststellenden Kindes dar, das die Nacktheit des Kaisers ausspricht. Beide Typen von Kindern begegnen mir täglich in der Schule, und ich stelle mir oft die Frage, wie eine zukünftige Gesellschaft aussieht, die von diesem oder jenem Menschentyp geprägt ist und wie es dazu kommt, dass sich Kinder in die eine oder andere Richtung entwickeln?

Ich denke es ist entscheidend, in unserer hochgradig durchgetakteten Welt bei sich zu bleiben und neben dem ‘speed of life’ andere Geschwindigkeiten zu finden. Auf der anderen Seite müssten wir den Menschen, die uns nahe stehen (Kinder, Eltern, PartnerInnen, FreundInnen, KollegInnen) ihr eigenes Tempo zugestehen. Im pädagogischen Bereich hieße das, das Schulsystem nicht nach Leistung, Fähigkeiten, Altersstufen zu differenzieren, sondern nach dem individuellen Lerntempo und Entwicklungsstand. Erst dann wäre die Schule für die Menschen da und nicht umgekehrt.

Die Verantwortlichen der Plattform für Gesellschaftsentwürfe und Utopien haben ihr den Namen Umbruch gegeben. Eine Bedeutung dieses Wortes kommt aus der Landwirtschaft und meint das Umwandeln einer Fläche in Ackerland. Was ist es also, das in den Umbrüchen dieser Tage vorbereitet wird, damit es zum Vorschein komme und in Zukunft Früchte trage?

Ich meine, es müsste eine Kultur des Erzählens und Zuhörens sein. Es wäre dann auch eine Kultur der Entschleunigung, die das Wahrnehmen des Eigenen und des Fremden, des Selbst und des Gegenüber möglich macht. Ob analog oder digitaler Form, physisch oder virtuell, entscheidend ist die Ressource Zeit als wichtigste Voraussetzung, um Aufmerksamkeit, sorgsamen Umgang und somit Beziehung zu ermöglichen.


Leo Schönauer

Leo Schönauer ist AHS-Lehrer für Deutsch und Sport. Der Vater von zwei Kindern ist im Netzwerk für handlungsorientierte Beratung und Entwicklung (www.nhbe.at ) als Trainer und Coach tätig.

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