Lassen wir nicht zu, dass sich das historische Zeitfenster wieder schließt

von Alexander Behr

Die Lage, in der wir uns befinden, könnte paradoxer nicht sein: Während sich die Pandemie vor unseren Augen ausbreitet, sind Staats- und Regierungschefs rund um den Globus plötzlich zu ökonomischen Entscheidungen in der Lage, die sie bis vor Kurzem noch als Teufelszeug gebrandmarkt hätten: Billionen an Dollar und Euro liegen auf dem Tisch, der Staat greift ohne zu zögern ins Wirtschaftsgeschehen ein – das neoliberale Dogma, das besagt, dass die unsichtbare Hand des Marktes alle Probleme zu lösen imstande sei, hat sich als blanker Unsinn entpuppt. Was in Vor-Corona Zeiten kategorisch bekämpft wurde, ist aktuell einhellige Meinung, quer durch alle ideologischen Lager. 

Die Krise, vor der wir stehen, kommt nicht durch Zufall. Sie ist, wie Aktivist*innen vom oppositionellen chinesischen Blog der Zeitschrift Chua betonen, kein unwahrscheinliches Ereignis, das unabhängig vom kapitalistischen Wirtschaftsgeschehen sei. Vielmehr führt eine direkte Linie vom strukturellen Wachstumszwang des Kapitalismus hin zur Covid-Krise. Unzählige Forscher*innen haben in den letzten Wochen darauf hingewiesen, dass die Zerstörung der Biodiversität und die Zurückdrängung der Wälder die Wahrscheinlichkeit für die Herausbildung von Viren, die von Wildtieren auf den Menschen überspringen, enorm erhöhen. Die feministische Marxistin Silvia Federici hat diese Zerstörungsprozesse in ihren Büchern als fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals bezeichnet. Zur Zerstörung der Biodiversität kommt die Gefahr, die von der industriellen Tierhaltung ausgeht. Auch sie verursacht die Verbreitung von gefährlichen Viren. Darauf hat nicht zuletzt der Evolutionsbiologe Rob Wallace, Autor von Big Farms make Big Flu, hingewiesen. Auch die Verbreitung des Virus erfolgte nicht „zufällig“: Es war die globale Oberschicht, die durch ihre überdurchschnittlich vielen Flugreisen Covid-19 in rasender Geschwindigkeit rund um den Globus brachte. 

Ende Mai hätte in Wien eine großangelegte Konferenz zu Degrowth, also zum Thema der bewussten und geplanten Wachstumsrücknahme stattfinden sollen. Die Covid-Krise zeigt uns, wie wichtig es ist, natürliche Lebensräume vor dem Zugriff der industriell-kapitalistischen Zerstörung zu schützen und das Dogma des unendlichen Wirtschaftswachstums zu hinterfragen.  

Doch was ist nun zu tun? Vor uns hat sich ein historisches Zeitfenster aufgetan. Es wäre fatal, zuzulassen, dass es sich wieder schließt. Auf die Wirtschaftskrise vom Jahr 2008 und 2009 folgte ein weiteres 'business as usual'. Damals waren die globalen sozialen Bewegungen zu schwach, um eine Alternative zur neoliberalen Globalisierung durchzusetzen. Lassen wir es nicht zu, dass diesmal die tiefgreifende sozial-ökologischer Transformation, die wir brauchen, verhindert wird. Angesichts der rapide voranschreitenden Klimazerstörung können wir uns nicht leisten, eine weitere Krise ungenutzt verstreichen zu lassen. 

Der Slogan der Klimabewegungen für dieses Jahr lautet by 2020 we rise up - rund um den Globus waren Massenaktionen geplant. Normalerweise wären wir also zu vielen tausenden auf der Straße, um unseren Forderungen nach Klimagerechtigkeit Nachdruck zu verleihen – in Österreich geben  Bewegungen wie System Change not Climate Change und Stay Grounded dafür die wichtigen Impulse. 

Die Corona-Krise bringt uns nun in eine paradoxe Situation: Wir können uns nicht versammeln, um mittels massenhaften zivilen Ungehorsam klimaschädliche Sektoren wie die Auto- oder Flugindustrie zu blockieren. Doch die meisten dieser destruktiven Wirtschaftszweige stehen ohnehin ganz ohne unser Zutun still. Das ist zwar kein Grund zur Freude: Unzählige Menschen leiden nicht nur in gesundheitlicher, sondern auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht an den Folgen der Krise. 

Doch mit einem Mal stehen wir unvermittelt vor einer Weggabelung der Geschichte. Schon lange nicht mehr war es so offensichtlich, dass es sehr wohl Alternativen gibt – wir können, ja wir müssen das Rad der Geschichte jetzt in eine andere Richtung drehen.

Für Österreich ergeben sich sofort unmittelbare Herausforderungen: Wie Lucia Steinwender betont hat, müssen wir sicherstellen, dass in klimaschädlichen Sektoren eine Produktionskonversion eingeleitet wird. Alle öffentlichen Investitionen müssen sich an der Einhaltung des 1,5 Grad Ziels orientieren. Die gigantischen öffentlichen Mitteln, die nun zu Verfügung stehen, müssen dafür eingesetzt werden, den Beschäftigten in der darniederliegenden Flug- und Autoindustrie attraktive und gut abgesicherte ökologische Jobs anzubieten. Im Fall der Austrian Airlines könnte dies sofort in Angriff genommen werden. Denn Fliegen ist nicht nur ein Klimakiller, der in Europa knapp 15% der Emissionen verursacht – das Flugzeug ist auch ein Verkehrsmittel, das von Reichen ungleich mehr benutzt wird als von Armen, wie aus einer Umfrage des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) hervorgeht. Wie Ulrich Brand und Heinz Högelsberger betonen, hat der Boom der Billigflieger also in keinster Weise den „demokratisierenden“ Effekt, der ihm von Lobbyisten zugeschrieben wird.

Neben dem ökologischen Umbau der Wirtschaft geht es auch darum, die Krisenlasten gerecht zu verteilen. In einer Gesellschaft, in der sich 50% der Bevölkerung gerade einmal 2,5% des Nettovermögens teilt, während das reichste Prozent 41% des Nettovermögens besitzt und in der jedes Jahr 14 Mrd. Euro an leistungslosem Einkommen steuerfrei vererbt werden, ist es gerade jetzt offensichtlich, dass Kosten für die Krise extrem ungleich verteilt sind. Das momentum Institut hat errechnet, dass durch die Besteuerung von Vermögen, Erbschaften, Spitzeneinkommen und verschobenen Gewinnen rund 12 Milliarden Euro eingenommen werden könnten. Das wäre bereits ein Drittel der 38 Milliarden Euro, die die Regierung für die Bewältigung der Krise einsetzen will.  

Wir dürfen nun mit unseren Forderungen nicht bescheiden sein. Denn es liegt nicht nur „Big Money“ am Tisch; wenn die progressiven Kräfte in der Lage sind, genügend Druck aufzubauen, kann man neben dem „Big Money“ auch die richtigen Konzepte auf den Tisch legen. Dazu gehört der „Green New Deal“, so wie ihn Alexandria Ocasio-Cortez bereits vor einem Jahr für die USA vorgeschlagen und wie ihn Bernie Sanders für seinen Wahlkampf übernommen hat. Anstatt große Firmen aus dem Bereich der fossilen Energie zu „retten“, müssten die großmaßstäbigen öffentlichen Investitionen, die nun anstehen, dazu genutzt werden, um massenhaft Arbeitsplätze für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, dem Rückbau von Autobahnen sowie der großmaßstäbigen Gebäudedämmung geschaffen werden. Der Staat soll Arbeitsstiftungen gründen, die diese Jobs vermitteln und zugänglich machen. 

Die Covid-19-Krise hat der imperialen Produktions- und Lebensweise ruckartig die Grundlage entzogen. Was wir aus der Krise lernen können, ist, dass das Hamsterrad aus Lohnarbeit und Konsum, in dem wir eingesperrt sind, sehr wohl angehalten werden kann. 

Die Covid-19-Krise eröffnet die Möglichkeit, eine Post-Neoliberale Phase einzuleiten, in der das Dogma von Hyperglobalisierung und Freihandel fällt und ein gutes Leben für alle innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten durchgesetzt werden könnte.

Auch am diesjährigen 1. Mai konnten wir nicht auf die Straßen gehen – zumindest nicht wie gewohnt. Umso wichtiger ist es, vernetzt zu bleiben und aktiv zu sein. Jüngst forderten wir in einem offenen Brief die sofortige Evakuierung der Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln blockiert sind. Denn es kann kein Nachdenken über Utopien für die Zeit nach Corona geben, wenn nicht hier und jetzt ein Minimum an grenzüberschreitender Solidarität aufrechterhalten wird – das ist gewissermaßen der Lackmustest für die Gesellschaft, die wir nach Corona aufbauen sollten. Die Quarantäne mag uns aktuell in unserer Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einschränken – nicht jedoch in unserer Möglichkeit, uns laut und deutlich für globale Solidarität stark zu machen. 

Alexander Behr

Alexander Behr ist Politikwissenschafter, Übersetzer und Journalist. Neben der Lehrtätigkeit an Universitäten, an Schulen und bei Gewerkschaften ist er Aktivist im Netzwerk Afrique Europe Interact und im forumcivique.org.

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'Invictus' oder Von der Kraft des erzählenden Wortes

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Wer gestaltet sie, Europas „neue Normalität“?