Auf einmal ging uns Bildung alle etwas an…

von Michael Hagelmüller:

In den letzten Tagen stellt sich gefühlt ein Aufwachen aus dem „Fiebertraum Corona“ ein: In Österreich kam es nicht so dramatisch wie befürchtet, eine Krise des Gesundheitssystems konnte vorerst abgewendet werden. Das Wirtschaftssystem stellt sich auf eine der größten Krisen der letzten Jahrzehnte ein. Die Beziehung der Politik zu den Bürger*innen: kompliziert. Und die Bildung? Über Bildünger darf ich dem System „Bildung“ tagtäglich, mit etwas Abstand, zusehen. Nicht als Lehrkraft, sondern als Begleiter von Bildungsprojekten, die von Lehrer*innen, NGO-Mitarbeiter*innen und anderen Gestalter*innen umgesetzt werden. Für viele Außenstehende scheint das Bildungssystem momentan so überfordert mit der Situation, dass die Eltern und andere Engagierte eingreifen müssen. Genau hier sollte man jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sondern genauer hinschauen. 

Wenn wir genauer hinschauen, dann dominieren zwei Sichtweisen auf die Krise. Die eine Sichtweise sieht jene Probleme, die die Corona-Krise lediglich ins Licht befördert hat: Die fehlende Bildungsgerechtigkeit, der lange Weg, der in Bezug auf Gleichberechtigung noch vor uns liegt oder, dass viele, für eine bessere Gesellschaft engagierte Organisationen noch nicht als gleichbedeutend mit der Wirtschaft angesehen werden. Die andere Sichtweise sieht den Umbruch, der durch die Corona-Krise möglich werden soll. Ideen wie die einer erstarkten öffentlichen Hand, die die nachhaltige Wende doch durchsetzen kann, die (wiederauferstandene) Diskussion ums Postwachstum oder auch die einer chancengerechteren und zukunftsfähigeren Bildung.

Am System „Bildung“ lässt sich sehr gut ablesen, wie ein Spannungsfeld zwischen diesen zwei Sichtweisen entsteht. Zurückgelassene Schüler*innen und überforderte Lehrer*innen auf der einen, gut eingebundene Schüler*innen und engagierte Pädagog*innen mit innovativem Unterricht auf der anderen Seite. Denn schon auch vor der Krise galt: Kaum ein anderes gesellschaftliches Sub-System vereint Gegensätze so stark in sich, wie das Bildungssystem. Und in keinem anderen werden sie oft so sichtbar und liegen so nah beisammen. Corona befördert auch das zu Tage. 

In den letzten Wochen sah die Situation in etwa so aus: Die Mehrheit der 1,1 Millionen Schüler*innen wurden auf Distanz über Zoom und Co unterrichtet. Die Erfahrungsberichte könnten unterschiedlicher nicht sein: Arbeitsaufgaben waren zu umfangreich, die selbstgesteuerte Zeiteinteilung war und ist für viele Jugendliche ungewohnt und insbesondere den benachteiligten Jugendlichen fehlt Unterstützung aus dem Elternhaus und die notwendige technische Hardware. Stimmen aus vielen Schulen zeigen aber auch, dass Lehrer*innen von heute auf morgen auf interaktive Online-Lernumgebungen umgestellt haben, neue Stärken entdecken und funktionierende Lern-Lösungen für die Schüler*innen finden. 

Aber nicht nur innerhalb der Schulen kam Bewegung rein. Auch die Zivilgesellschaft, also Vereine, Bildungs-NGOs und Unternehmen, wollten unterstützen. Sie starteten Online-Webinare für Schüler*innen oder Online-Lern-Buddy-Programme für benachteiligte Jugendliche, um sie beim distance-leaning zu unterstützen. Unternehmen bieten Laptops und IPads, um Schulen auch Hardware-technisch gut für diese Zeit auszurüsten. Vieles findet davon leider noch nicht den Weg in die Schule, weil die Flut von Angeboten die Schulen überfordert. Was auch nicht überrascht, wenn manche Lehrkräfte momentan 80-100 Wochenstunden arbeiten. Dafür haben sich aber schnell Vermittler*innen über die Plattform „#weiterlernen“ gefunden, die Schulen hier unterstützen, die passenden Unterstützungsangebote und die richtige Hardware zu bekommen.
Auch Eltern mussten ihre Rolle verändern. Manche Eltern gingen so tief in die Bildung ihrer Kinder hinein, wie selten zuvor. Deren Kinder werden möglicherweise mit mehr Wissen und Fähigkeiten aus dem Lockdown herauskommen, als wenn sie „nur“ normal zur Schule gegangen wären. Viele der „systemrelevanten“, nicht im home-office arbeitenden Mütter und Väter konnten hingegen nicht auch noch die Lernbegleitung der Kinder stemmen. Hier werden die Bruchlinien, die vor Corona schon da waren, besonders sichtbar werden. Trotzdem ist in allen Fällen eine Tatsache klar: Die Eltern waren, auch wenn unfreiwillig, schon lange nicht mehr so nahe am Lerngeschehen ihrer Kinder dran.

Wenn man einen Schritt zurücktritt, auf diese Entwicklungen blickt, und ja, vielleicht die Augen etwas zusammenkneift, dann sieht man folgendes Bild: Lehrer*innen, die fundamental ihre Art zu unterrichten umgestellt haben. Schüler*innen, die selbstgesteuert(er) lernen. Zivilgesellschaft und Unternehmen, die Schulen bei ihrer Bildungsarbeit unterstützen. Und Eltern, die im Zusammenspiel mit den aufgelisteten, die Bildung ihrer Kinder mitgestalten. Kurz: Ein System „Bildung“ das von heute auf morgen, anders funktionierte. Und zwar so, dass uns Bildung alle etwas anging.

Corona gab uns einen „gemeinsamen Feind“. Wir haben uns anders organisiert, Menschen haben mitangepackt und das System „Bildung“ mitgestaltet und nicht gefragt: „Dürfen die das?“ – dafür war keine Zeit. Eines der einprägsamsten Sinnbilder dafür fand sich auf dem 1000 Teilnehmer*innen starken #weiterlernen-Online-Kongress: Bildungs-Minister, Lehrer*innen und Engagierte aus der Zivilgesellschaft – alle digital auf Augenhöhe, vereint, um Bildung für alle in Zeiten der Krise zu ermöglichen.

Damit es so weitergehen kann, auch ohne die Augen zusammen zu kneifen, braucht es vor allem das Bekenntnis, diese neue Kultur des Gemeinsamen und der Öffnung weiter zu führen – von Ministerium, Bildungsdirektionen und der Politik. Denn die großen Krisen, von Corona bis Klima, brauchen eine zukunftsfähige Bildung, wo alle mitanpacken. Natürlich braucht es dazu Begleitung und Planung, damit sich jede*r in der richtigen Rolle wiederfindet und die Sicherheit, dass entlang der wichtigsten Leitlinien, wie Lehrplänen und Bildungszielen, gearbeitet wird. Aber lasst uns den Mut haben, machen wir Bildung zur Gemeinschaftsaufgabe - damit Bildung uns auch weiterhin alle etwas angeht.

Michael Hagelmüller

Michael Hagelmüller arbeitet bei der NGO Ashoka und leitet gemeinsam mit Carolin Schmid-Schmidsfelden Bildünger. Bildünger baut ein auf abgestimmtes Handeln fokussiertes Netzwerk zwischen Bildungs-Projekten, der öffentlichen Hand, Stiftungen und Unternehmen.

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