Bildung braucht Beziehung

von Gregor Ruttner:

Standardisierung, Zentralisierung und Vergleichbarkeit prägten die öffentliche Bildungsdebatte der letzten Jahre (Jahrzehnte?). In Österreich herrscht die Vorstellung von Schule im Sinne des Nürnberger Trichters: Unmündige Menschen ohne Wissen werden mit eben solchem gefüllt (überschüttet) bis sie im Idealfall „reif“ sind. Solche „Gefäße“, in die schon früher nichts mehr hineinpasst, werden schlichtweg aussortiert, manche sogar einfach fallen gelassen. Was die Corona-Zeit uns aber eindeutig gezeigt hat ist, dass Bildung nicht Benotung braucht, sondern Bildung braucht Beziehung.

Wir leben in einer Welt, in der alles Wissen der Welt jederzeit nur eine Websuche von uns entfernt ist. Die letzten Monate waren geprägt vom Umgang mit Unsicherheit und dem Wunsch nach Reduktion von Komplexität. Diese so genannten „21st Century Skills“ waren gefragt. Sie werden jedoch kaum im Regelschulsystem vermittelt. Junge Menschen sollten zuallererst lernen, mit sich selbst klarzukommen. Frontalunterricht kann diese Fähigkeit gar nicht vermitteln. Wer sich jedoch im Leben zurechtfindet und von Anfang an aktiv Kooperation mit anderen lebt, wird später mit Leichtigkeit in der Lage sein, sich Fachwissen und Fähigkeiten für bestimmte Aufgaben anzueignen. Nicht, weil es eine Autorität vorgibt, sondern aus Eigeninteresse und mit Freude. Selbststeuerung statt Fremdsteuerung.

Wertschätzende Beziehungen sind dabei das A und O: Lehrkräfte sollen ihren Schüler:innen auf Augenhöhe begegnen dürfen. Rückmeldungen sollen nicht in Form von Noten, sondern im persönlichen Gespräch erfolgen. Jedes einzelne Kind soll als Subjekt und nicht als Objekt behandelt werden. Wir können nicht 25 Menschen als Einheit betrachten. In jedem Menschen schlummern unterschiedliche Potenziale. Diese sollen durch die Lehrkräfte mobilisiert und aktiviert werden. Junge Menschen spüren, wenn ihnen gegenüber Vertrauen eingebracht wird. Jede Person soll in ihrem eigenen Tempo lernen dürfen. Schüler:innen sollen sich gegenseitig unterstützen dürfen. Dabei sollte das Alter keine Rolle spielen. Ältere dürfen Jüngeren genauso etwas erklären, wie umgekehrt. So lernen sie, sich Herausforderungen zu stellen und diese zu meistern.

Bevor Kinder in die Schule kommen lernen sie so vieles aus Eigenantrieb heraus: Kommunikation und Bewegung. Alles, weil sie es wollen. Warum soll das ab einem gewissen Alter anders sein? Wir sollten damit aufhören, jungen Menschen Inhalte zu vermitteln, die sie einfach nicht interessieren. Das ist Zeitverschwendung für die Lernenden, wie für die Lehrenden. Wir sollten Schule als das verstehen, was sie in den Augen der Schüler:innen am allermeisten ist: Ein Sozialraum, in dem sie die meiste Zeit ihres Tages verbringen.

Ja, Wissensvermittlung hat auch im Lockdown stattgefunden. Sie hat bei denen funktioniert, die ausreichend Platz und ein eigenes Gerät zu Hause haben. Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen hingegen, fanden jedoch unzureichende Lernbedingungen vor – wenn sie überhaupt von den Schulen erreicht werden konnten. Die Schulöffnungen sind deswegen wichtig und richtig, weil junge Menschen Beziehungen außerhalb der eigenen Familie brauchen. Damit soll nicht das alte Sprichwort bemüht werden, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen, sondern auf die Tatsache hingewiesen werden, dass die Begegnung mit anderen Lernenden an sich schon befruchtend ist. Daher sollte die Schule nach Corona viel mehr Platz für Freiräume anberaumen, in denen offenes Denken und Kreativität nicht nur erlaubt sind, sondern aktiv gefördert werden. Nur so ist echte Chancengerechtigkeit für alle möglich!

Wer die Schule verlässt, soll gebildet sein, Gebildet heißt aber nicht, voll von Wissen. Gebildet heißt, sich der eigenen Persönlichkeit bewusst zu sein. Zu wissen, wie man anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen kann. Für Ideen anderer offen zu sein und diese nicht als Gefahr für das eigene Ego, sondern als Bereicherung für die Gemeinschaft wahrzunehmen. Eine Vision für das eigene Vorankommen zu haben, genauso wie eine für die Gesellschaft, in der man leben möchte. Die eigenen Stärken und Schwächen kennen. Daher achtsam zu sein sich selbst und der Umwelt gegenüber. Und stets zu wissen: Der Mensch lernt ein Leben lang.

Gregor Ruttner

Gregor Ruttner, MA MSc ist Programmleiter von SEED, einer Initiative des Teach for Austria Alumni Vereins, Vorstand der BiondekBühne, Lehrender an der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich sowie selbst seit mehr als einem Jahrzehnt als Pädagoge tätig.

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