Dafür kämpfen, nicht immer wieder ums Überleben kämpfen zu müssen

von Christian Berger

Das menschliche Leben könnte den Wettlauf gegen Pandemien, das Grassieren männlicher Gewalt, das „rechte Eskalationskontinuum“ und nahende ökologischen Katastrophen verlieren. Eine Bedingung für überlebenswichtige Veränderung wäre, sich zu fragen, wie es so weit kommen konnte und wie wir so werden konnten.

Die „Coronakrise“ ist die neue Form der „Vielfachkrise“ des Kapitalismus. Das Coronavirus trifft auf eine Gesellschaft, in der ökonomische Konkurrenz universalisiert ist. Die weit verbreitete Vorstellung, die eigenen Interessen nur gegen die der anderen durchsetzen zu können, ist integraler Bestandteil des „Mikrofaschismus“, der noch „in den Poren unserer Gesellschaften wuchert“ (Félix Guattari). Er offenbart sich nicht nur in der Mentalität der Gleichgültigkeit, in der Verachtung und Verdinglichung des anderen (und das eigenen), er steckt auch in der Technikorientierung und Militarismus, in der Naturbeherrschung und Produktionsweise, im Rassismus, in der Unterdrückung von Frauen und Minderheiten. Und im Mangel an Sorgestrukturen.

Im Zuge der neoliberalen Transformation wurde der niemals für alle gültige wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromiss aufgekündigt, sozial Deklassierte kämpfen an den Rändern der Gesellschaft schon längst ums Überleben. Vor der Krise konnte man die Tendenz feststellen, dass öffentliche Angebote und Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitssystem, der Kinderbetreuung, der Pflege und Altersversorgung reduziert oder vermarktlicht werden und sich die von Nancy Fraser diagnostizierte "Krise der sozialen Reproduktion" zuspitzt. Kaputtgesparte Gesundheits- und Sozialsysteme sind nicht in der Lage, Menschen massenhaft ausreichend zu versorgen, geschweige denn gut. Das wissen wir nicht erst seit Corona, aber Corona zeigt das Ausmaß der Care-Krise. Corona zeigt, dass Ungleichheit tötet. Die Arbeiter*innenklasse ist am stärksten betroffen, vor allem Personen, die im Einzelhandel, in der Reinigungs- und Pflegebranche arbeiten, allen voran Frauen und Migrant*innen. Ihre Arbeit ist unter- oder unbezahlt und dennoch notwendig, sie sind die, auf die man für das Funktionieren der Gesellschaft nicht verzichten kann, die man nicht ins Homeoffice schicken kann.

Homeoffice steht den Besserverdienenden zur Verfügung – das Viertel mit dem höchsten Einkommen hat mehr als die Hälfte die Wahl, zu Hause zu arbeiten – krisenunabhängig. Sozial isolieren kann sich nur, wer über dafür notwendigen Raum und Ressourcen verfügt. Ein Privileg ist es auch, zu Hause sicher zu sein. Unter Krisenbedingungen nimmt männliche Gewalt zu. Die Pekinger Frauenrechtsorganisation „Weiping“ berichtet, dass sich die Zahl der bekannt gewordenen Gewaltfälle im Zuge der Corona-Quarantäne verdreifacht hätte; die realen Ausmaße der Gewalt gegen Frauen und Kinder werden statistisch nicht erfasst, gesellschaftlich verdrängt. Es brechen Neurosen aus, die Menschen im sogenannten Normalzustand nur mit Müh und Not im Griff haben. Angst vor Kontrollverlust, körperlichem Verfall, vor Vereinsamung und sozialem Abstieg wird externalisiert, Menschen sind unter diesen verschärften Bedingungen – „ohne Reflexion“ – nur schwer davon abzubringen „auf sich selbst nach außen zu schlagen“ (Theodor Adorno).

Individualisierte Überlebenskämpfe provozieren Stress, Aggression, destruktive Ausbrüche und politische Indifferenz. Es ist zweifelhaft, dass sich Menschen auf Distanz näherkommen. Wir sollten versuchen, uns nicht noch weiter zu entfernen, aufmerksam und solidarisch zu sein. Denn „danach“ müssen wir mit dem Rückzug ins Private brechen, uns zusammenschließen und dafür kämpfen, nicht immer wieder ums Überleben kämpfen zu müssen. „This will be awful, and then it will end, and when it does, we’ll have built up our resistance” (Laurie Penny). Es wird notwendig sein, patriarchale Herrschaft zu beenden, die Konzentration von Kapital aufzulösen, um in überlebenswichtige gesellschaftliche Herausforderungen wie umfassenden Klima-, Asyl- und Gewaltschutz und zukunftsfähige öffentliche Systeme zu reinvestieren. Unser Verständnis von Wohlstand wird notwendigerweise an der Sorge um das Lebendige, am Reichtum sozialer Beziehungen und sinnlichen Erlebnissen neu auszurichten sein. In der (un)bewussten Vergegenwärtigung von Verletzbarkeit und kollektiver Verantwortung liegt nicht nur politisches Potential für gesellschaftliche Integration, sondern auch für eine Belebung von Urteils- und Kritikfähigkeit und eine grundlegende Demokratisierung von Geschlechterverhältnissen, Staat und Ökonomie.

Christian Berger ist Referent in der Arbeiterkammer Wien im Bereich Wirtschaft/Digitalisierung, Berater und Coach im Bereich Gender Equality Management und ist einer der Sprecher*innen des Frauen*Volksbegehrens. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gleichstellungsrecht und -politik, Feministische Politische Ökonomie, Populärkultur und Kulturkritik.

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Theologie im Kontext von Corona?!

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